Ute Reeh
Löcher in Konzepten
Menschen stoßen immer wieder auf die Diskrepanz zwischen dem, was wir als Konzept oder als Vorstellung über die Welt haben, und der komplexen Realität, mit der wir – ob wir wollen oder nicht – konfrontiert sind und zu der wir selbst gehören. Unsere Vorstellungen, gewachsene Systematisierungen und Versuche, Ordnungsprinzipien und Regeln zu entwickeln, haben wichtige Funktionen. Sie lassen auch das, was nicht kontrollierbar ist, geregelt erscheinen. Sie schaffen Sicherheit. Sie sind ein Bestandteil unserer Kultur und Basis im Alltag. Aber diese Konzepte, Vorstellungen und Kategorisierungen verstellen auch unseren Blick. Wir übersehen, dass es unsere Bilder und Projektionen von der Welt sind und nicht die Welt selbst.
Tauchen im Zwischenraum
Planung, Wissenschaft, Lehre finden häufig auf der Konzeptebene statt. Das ist selten bewusst. Dem eigenen Blick zu folgen und zu vertrauen berührt die Essenz von Kunst. Alle Kunst, die neue Wege geht, stört, sie macht Löcher oder Öffnungen in unsere Konzepte und Vorstellungen von der Welt. Das ermöglicht Blicke bis zum Grund. Es ermöglicht aber auch, dort am Grund, im Windschatten unserer Normen und Regeln, Versuche zu unternehmen. Zusätzlich zu Experimenten und Projekten sind Erkundungen möglich im Spalt zwischen Konzept und dem physischen Raum im großen Gefüge der Welt, zwischen Vorstellungen und komplexen Realitäten. Künstler/innen sind geübt im Erkunden unbekannter Terrains.
Solche Tauchgänge können den Blick auf unsere Welt verändern. Essenziell ist, die eigenen Entdeckungen sichtbar zu machen. Dabei hilft, konkret zu werden, Beobachtungen zu folgen, Ideen aufzuzeichnen, festzuhalten und zunächst im Experiment umzusetzen. Wenn das, was gezeigt wird, interessant, schön, stimmig, funktional und so weiter ist, dann wächst die Bereitschaft anderer, sich ebenfalls umzuschauen und eigene, weitere Versuche zu unternehmen. Erfreulicherweise haben erfolgreiche Versuche, Dinge neu und anders zu sehen, die Tendenz, sich auszubreiten. Das, was in den Projekten physisch geschaffen wird, führt zum nächsten Schritt. Die Sichtbarkeit der umgesetzten Arbeit macht anderen Mut, ebenfalls selbst Dinge zu erfinden. Weil sich unsere Welt immer weiterentwickelt, brauchen wir immer wieder neu Raum für ergebnisoffene Ideenfindungen. Im offenen, unvernetzten Raum können Hinsehen, Innehalten, Formen von Ideen, Zuhören, sich Austauschen stattfinden. Dort ist Raum für Kunst und Perspektiven aus allen Richtungen. Der Raum und die Momente, die wir in ihm verbringen, sind kostbar, denn hier bilden sich neue, an die Situation angepasste Lösungen. Wir selbst und unsere Umwelt verändern sich.
Das Stipendium Artists in Wittenberger Weg betreffende Texte
Die folgenden Texte sind im Katalog 2018 des Stipendiums Artists in Wittenberger Weg des Zentrums für Peripherie erschienen (ISBN 978-3-9820473-0-0). Angaben zu den einzelnen geförderten Projekten finden Sie unter Projekte/Artists in Wittenberger Weg.
Katalogumschlag 2018
(siehe Projekte /Artists in Wittebnberger Weg)
Gregor Jansen
Handlung denken
Artists in Wittenberger Weg knüpft an eine lange und weit reichende Denktradition, die im frühen 20. Jahrhundert beginnt, von den russischen Konstruktivisten, von Bewegungen und Gruppierungen wie Dada und Fluxus, dem Bauhaus oder dem Black Mountain College, der Situationistischen Internationale und Guy Debord in Paris, Joseph Beuys‘ erweitertem Kunstbegriff in Düsseldorf, vielfältige Interaktion mit und durch die Kunst. Die Erweiterung und Ausdifferenzierung von bestimmten Praktiken und Denkmodellen, institutionellen Vorgaben oder Zeitgeisterscheinungen wie sie auch immer wieder in den Ausstellungen von Harald Szeemann thematisiert wurden, der momentan in der Kunsthalle Düsseldorf gezeigt wird, gehören zu den spannenden und spannungsreichen Kapiteln der neueren Kunstgeschichte. Ich denke an „Live in Your Head. When Attitudes Become Form“, „Junggesellenmaschinen“, „Monte Veritá: Brüste der Wahrheit“ oder „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Aber auch die Passstücke Franz Wests, von ihm als merkwürdige Prothesen zur Verfügung gestellt, mit denen sich umgehen und spielen lässt, wie mit unseren eigenen Eigentümlichkeiten, kommen mir in den Sinn. Oder die genähten, begeh- und benutzbaren Objekte und „Werksätze“ von Franz Erhard Walther, die sich im Spannungsfeld zwischen Strenge und Verspieltheit erst durch das Mittun/-denken des Betrachters voll entfalten, die Konzentration und Auseinandersetzung einfordern.
Handlung denken!, wie es auch in Brasilien aus einer politischen Situation heraus, zahlreiche Künstler eindrucksvoll anschaulich gemacht haben, beispielsweise Helio Oiticica oder Lygia Clark mit ihren wunderbaren Objekten, die ab 1963 entstehen. Lygia Clark entwickelte interaktive Objekte und später interaktive Installationen, die als „lebende Organismen“ verstanden, ihre Form und ihren Sinn erst erhalten, wenn der Körper des Betrachters mit ihnen in Beziehung tritt. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie die Einschränkung der Betrachtung von Kunst auf das Sehen überwindet und um Hören, Fühlen, Riechen, Tasten, sowie die Einbeziehung körperlicher Erfahrung durch verschiedene Körperhaltungen erweiterte interaktive Konzeptionen. Kunst wird somit zu einem subjektiven Erlebnis innerhalb der Anordnung eines Kontextes, was dadurch zum Ausdruck kam, dass Clark ihre Kunstwerke „Angebote“ und die Betrachter „Teilnehmer“ nannte.
Auch an Ute Reehs Skulpturen muss ich denken, die durch ihre physische Eigenart eigene Erfahrungen der Nutzer ermöglichen, an ihre Prozesse, in denen die Beteiligten mit ihren eigenen Wahrnehmungen das gemeinsam entstehende Projekt formen, und die Ideengeberin für Artists in Wittenberger Weg ist. Und letztendlich an den brasilianischen Künstler Ricardo Basbaum, der vor allem mit seiner sozialen Skulptur Would you like to participate in an artistic experience? seit 1994 fortlaufend, neue Denkweisen trans-formierte. Basbaum soll 2019 an den Wittenberger Weg kommen; er ist genau wie Sie, Du und ich eingeladen, uns seine poetischen Diagramme, die Objekt und Benutzer in ihren Choreografien zeigen, als ein neues Formen und Denken auszubreiten und anzueignen.
Artists in Wittenberger Weg möchte ein Netzwerk und eine Diskussion befördern, mit Kunst Komplexität zu begreifen und mit Veränderungen zu spielen. Dazu sind Kommunikation und Kreativität erforderlich und werden ausdrücklich gefördert. Etwas Besseres kann sich eine Stadtgesellschaft heute nicht wünschen.
Gregor Jansen, Kunsthalle Düsseldorf
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Raimar Stange
Der Weg ist das Ziel
oder: Prozess als Partizipation als Politik
Kunst als lebendiger Prozess, Kunst als „offenes Kunstwerk“ (Umberto Eco), in dem die eigene Veränderung zur Form wird, damit sich dann auch die Gesellschaft verändert, Kunst schließlich als kommunikativer Austausch und produktives Miteinander – genau diesen engagierten Versuch unternimmt das von Ute Reeh 2013 erfolgreich ins Leben gerufene Projekt „Arm oder reich?“. In Düsseldorf-Garath entwickelt sich ein vitales Kultur- und Lebenszentrum, das die Kunst nicht mehr vorrangig als schönes, aber nutzloses Prestigeobjekt für betuchte Sammler versteht, wie es in unserer Konsumgesellschaft heute meist üblich ist. Statt also künstlerische Gegenstände herzustellen, mit denen dann auf dem Kunstmarkt spekuliert werden kann, setzt „Arm oder reich?“ auf die emanzipatorische Kraft einer Kunst, die sich prozesshaft und performativ entwickelt. Und die sich dabei besinnt auf die eigenen alltäglichen Notwendigkeiten und existentiellen Bedürfnisse, eine Besinnung, die dann gesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen kann.
In der Tradition nicht zuletzt von Joseph Beuys und seiner „Kunst als soziale Plastik“ vertraut „Arm oder reich?“ also auf eben die Potenz, die kreatives Handeln besitzt, wenn es sich nicht an Begriffen wie „Werk“, „Wert“ oder „Vollendung“ orientiert, stattdessen auf Momente wie Aktion, Austausch und Augenhöhe baut. „Augenhöhe“ meint, dass in diesem, mitten im Leben stehenden Projekt keine Unterschiede zwischen „Amateuren“ und „Profis“ existieren, sondern ungeachtet vermeintlicher „Kompetenzen“ miteinander und lustvoll um Lösungen gerungen wird.
Dass ein solches Projekt lokale und internationale Aktivitäten miteinander zu koppeln sucht, dieses ist im Zeitalter der Globalisierung nicht nur selbstverständlich, sondern eben auch sinnvoll, denn solch Vernetzung führt zu einem Erfahrungsaustausch, der die Diskussion um den gesellschaftlichen und analytischen Beitrag zeitgenössischer Kunst bereichert. Das im Rahmen von „Arm oder reich?“ dafür initiierte Stipendium betont die Notwendigkeit dieses Austausches und zeigt zudem auf, dass die prozessuale Kunst längst international anerkannt und prominent verbreitet ist.
Raimar Stange, freier Kurator und Kunstpublizist, Berlin
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Jasmin Grande
Was ist mit Kunst?
„Schwemmland, was heißt denn das?“, ältere Dame, die im Vorbeigehen vom Fahrrad gestiegen ist.
„Guck mal, das haben wir gemacht“, zwei Kinder, die am Wiesencafé vorbeigehen.
Korrespondierend zu der existentiellen und zugleich offenen Ebene, auf die die Frage „Was ist mit Liebe?“ verweist und die eine Leerstelle öffentlicher Debatten markiert, rückt hier die Frage in den Blick „Was ist mit Kunst?“.
Angeleitet von Ute Reeh entsteht in einem gemeinsamen Prozess mit regionalen Akteur*innen, Kindern und überhaupt Profis und, seit diesem Jahr, Stipendiat*innen, das Wiesencafé am Wittenberger Weg in Düsseldorf-Garath. Man fährt zunächst drum herum, weil die Straße so angelegt ist: Ein Raum zwischen den Häusern öffnet sich, in der Mitte ein erhöhter Betonring mit einem Holzboden. Um diese Basis herum gruppieren sich Blumen und Wiesenelemente mit Bäumen. An der gegenüberliegenden Hauswand informiert seit September 2018 ein großer Leuchtkasten: Schwemmland. Eine Maßnahme der ersten Artists in Wittenberger Weg, Swaantje Güntzel und Jan Philip Scheibe. Es ist eine Ortsbezeichnung, lokal und poetisch: der Wittenberger Weg ist nicht Stadt, sondern Land, ein Land. Hier verbindet sich die Region mit Sedimenten, die mittels ihrer Schwimm- und Ankerkompetenz anlanden.
Der Ausgangspunkt dieses „Zentrums für Peripherie“ ist die im Prozess mit Kindern entstandene Form der Bodenplatte: Ein ungeschlossener Kreis, die Linien überlappen sich an zwei Stellen nicht. Sie erinnert an eine Bühne oder an den Grundriss eines sakralen Raumes, z.B. an eines der Urbilder in der „Phänomenologie des Kirchenbaus“ (Wolfgang Pehnt) bei Rudolf Schwarz. Diese Form steht für ein Wir: Alle formalen Impulse sind eine Einladung zum Verweilen: Die Betonmauern in Kniehöhe wollen erlaufen werden, der Holzboden lädt zum Berennen, der erhöhte Blick zum Nachdenken und zum Gespräch ein, die Bodenfläche zum Malen auf den Knien.
„Was ist mit Kunst?“ – das Wiesencafé erarbeitet zu dieser Frage eine wirkmächtige Antwort: Als gestaltender Impuls ohne elitären Gestus vermittelt es die Basis für eine Verbindung aller Lebensbereiche.
Jasmin Grande, Institut „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Christopher Dell
Peripherien: Subjekt / Geschichte / Ort
Gilles Deleuze formiert eine Theorie der Peripherie dort, wo er die strukturalistischen Fragen nach der Existenz oder Nicht-Existenz von Modellen oder Realitäten, die als Strukturen bezeichnet werden können, in den Hintergrund rückt. Im Fokus steht für ihn dagegen die Frage: Wo ist der Status und der Ort, „der dem Subjekt in Dimensionen zukommt, die man noch nicht für völlig strukturiert hält.“ (Gilles Deleuze, Foucault. Frankfurt a.M. 1992, S. 26) Diese Frage, die der Peripherie eines unbestimmten Randes einen neuen Stellenwert einräumt, impliziert jedoch keineswegs, dass hier auf einem Umweg das Subjekt als konstituierende Form wieder eingeführt würde. Vielmehr ist ein neues Spiel eröffnet, das die Maßstäbe zu überwinden sucht, gewissermaßen ein multimaßstäbliches Denken, das sich zwischen Mannigfaltigkeit und „dem Einen“ bewegt. Weder unterstellt es die Objektivität des Feldes, noch eine einheitliche Form des Subjekts: „es gibt lediglich knappe Mannigfaltigkeiten mitsamt singulären Punkten und leeren Plätzen für diejenigen, die dort einen Moment als Subjekte funktionieren, kumulierbare, wiederholbare und sich selbst erhaltende Regelmäßigkeiten.“ (ibid.)
Daran schließt an, Geschichte als kontingente Heterogenese historischer Prozesse zu interpretieren. Geschichte entzieht sich sowohl der Form (als Teleologie oder Herrschaft des Subjekts), als auch der Struktur (als homogenes System): sie konstituiert einen funktionalen Vektor, der die Mannigfaltigkeiten, die Ebenen, die Matrizes und Felder von der Peripherie her durchquert. Das Funktionieren der Subjekte für einen Moment bedeutet, dass etwas funktioniert, als knappe Mannigfaltigkeit erscheint, die, in den Worten Michel Foucaults, „ein Gebiet von Strukturen durchkreuzt und sie mit konkreten Inhalten in Raum und Zeit erscheinen lässt.“ Foucault hätte hier auch sagen können: als Zeit und Raum erscheinen lässt. Denn das durchkreuzte Gebiet ist ein Ort, der die Peripherie in ein temporäres Zentrum verwandeln kann. Zum Entscheidenden gerät, dass hier Zeit und Raum nicht als Behälter verstanden werden, in die etwas hineinzufüllen sei. Vielmehr lassen die Prozesse des Durchkreuzens die Bewegung eines temporären Diagramms entstehen, das Zeit und Raum an einem Ort zum Funktionieren bringt.
Christopher Dell, Musiker, Stadttheoretiker und Leiter des Instituts für Improvisationstechnologie, Berlin