Projekt Brandenburgs Alhambra

Luftbild mit Verlauf der Autobahn A14 und Raststätte. Luftaufnahme, die den Verlauf der Autobahn A14 und der Raststätte zeigt. Rot: Lehmwände, die in das Raststättengebäude übergehen. Orange: Leitstrukturen für Menschen. Gelb: Fahrrad- und Fußweg.

Workshop

Vom 14. bis 16. Januar 2021 führte das Zentrum für Peripherie einen hybriden Präsenz- und Online-Ideenfindungs-Workshop in Nebelin, Brandenburg durch. Der Workshop begann mit persönlichen Inputs der Dorfbewohner:innen und der örtlichen Verwaltung und gründete auf den Vorarbeiten des Forschungsteams Lehmlärmschutz. Beteiligt war die Bundesstiftung Baukultur, das Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe und die Bundesanstalt für Straßenbau. Das starke Interesse an Themen wie zeitgenössischer Lehmbaukultur, planerischer und technischer Innovation, Boden als Baustoff, der Idee des hochgeklappten Naturschutzes und der Einbindung in die an das Biosphärenreservat angrenzenden Landschaft führte dazu, dass sowohl Schlüsselpersonen aus der Region, als auch nationale und internationale Expert:innen an dem Workshop teilnahmen. Durch den fließenden Übergang zwischen Vor-Ort-Planung und Online-Meetings wurde die konkrete Arbeit mit Plänen und Modellen immer wieder um den Blick von Außen ergänzt. Das Verschränken verschiedenster Räume – dem Pfarrhof als Veranstaltungsort, Luftaufnahmen und Online-Konferenzen – machte sowohl die regionale, individuelle, als auch die überregionale, gesellschaftliche Bedeutung des Projektes greifbar und planerisch konkret. Mittels dieses neuen Formates gelang es eine komplexe und von allen Seiten befürwortete Vision zu entwerfen.

Ergebnis

Das Lehmbauensemble lässt sich von der Autobahnseite sowohl mit dem Individual-, als auch mit dem öffentlichen Fernverkehr erreichen und und ist als Tank- und Rastanlage unmittelbar an die Autobahn angegliedert. Von Nebeliner Seite ist es fußläufig und über einen Fahrradweg erreichbar. Dieser soll die Raststätte an das Radwegenetz der Region anschließen und mit den anliegenden Dörfern und dem Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe verknüpfen.
Der regionale Bezug der Rastanlage und ihre Einbettung in die Landschaft werden beim Betreten bereits auf den ersten Blick deutlich und brechen mit dem gängigen Bild der Raststätte als außerirdischem Ort* (*Rainer Nagel, Bundesstiftung Baukultur). Die Lehmwände fügen sich durch Material und Form in das Landschaftsbild der Prignitz ein.

Autobahn und Raststätte sind 2m höher gelegt als die umgebende Landschaft. Über einen auf Brüstungshöhe abgesenkten Abschnitt der massiven Lehmwand hinweg fällt der Blick in die Weite der umliegenden Landschaft. Außerhalb von Wand und Raststätte liegt ein Areal, das ursprünglich als Freifläche im Parkplatzbereich vorgesehen war. Nun ist es durch das Raststättengebäude hindurch betretbar. Dessen Architektur selbst ergibt sich aus dem Zwischenraum zweier sich überlappender Enden der Wand und verbindet Rastplatz und Landschaft. Beim Betreten des Gebäudes machen Karten und Livestreams aus Fledermaus- und Insektenquartieren die Bedeutung dieses Ortes für das umgebende Ökosystem, die regionale Kultur, die zeitgenössische Baukultur und die Geschichte des Baustoffs deutlich. Die vorzufindende Gastronomie berücksichtigt regionale Spezialitäten; Gastraum und Terrassen sind Orte der Begegnung, in denen sich Reisende wie mit dem Fahrrad angekommene Gäste der Region gleichermaßen aufhalten können. Von hier aus ist das zuvor über die Lehmbrüstung betrachtete Außenareal für Besucher:innen zugänglich.
Tritt man hinaus, ist man von Ruhe umgeben. Die mächtige Lehmwand aus dem Bodenaushub des Autobahnbaus im Rücken, führt ein Rundweg durch verschiedene ökologische Mosaike, die zugleich den in den Lehmwand siedelnden Insekten, Vögeln und Fledermäusen als Nahrungsangebot dienen und durch das Biosphärenreservat betreut und beforscht werden. Holzstege und andere weich integrierte Leitstrukturen tragen dazu bei, dass an diesem Ort die Verschränkung von Ausgleichs- und Erholungsflächen möglich und bewertbar ist. Hier findet sich eine Streuobstwiese, Sitzbänke und Orte für Bewegung und Ruhe, an denen man die Geräusche, Gerüche, Farben und die Besonderheiten der einzelnen Zonen erleben kann.
Im Wechselspiel zwischen Mensch und Umwelt werden individuelle Erfahrungen ermöglicht, die dafür sensibilisieren Natur und Landschaft zu bewahren und so dazu beitragen gesellschaftliche Herausforderungen zu adressieren:

„Nachhaltige Infrastrukturinvestitionen sind zur Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen von zentraler Bedeutung, dazu zu zählen ist auch der Straßenbau als Querschnitt einer Vielzahl von Themenfeldern. Mit Instrumenten und Lösungen des nachhaltigen Planens, Bauens und Betreibens kann hier zur Lebensqualität und Gesundheit, zum Klimaschutz und zur Ressourcenschonung beigetragen werden.“ – Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, Dialogfassung, 2021

Die Lehmlärmschutzwand dient als Nistmöglichkeit für eine Vielzahl von Wildbienen, sowie als Leitstruktur und Lebensraum für Fledermäuse mit hohem Schutzstatus. Dies ist in Ihrer Bewertung als Schutzmaßnahme relevant. Ebenfalls naturschutzfachlich relevant ist der Erhalt des Landschaftsbildes. Darüber hinaus ergänzt die Maßnahme diese passiven Elemente um eine aktive Nachhaltigkeitsstrategie, die unmittelbar am Mensch-Umweltverhältnis ansetzt und Besucher- so wie Anwohner:innen einbezieht. Und dennoch gilt: Obwohl die dargelegte Vision aufgrund ihrer neuartigen Verschränkung verschiedenster naturschutztechnisch relevanter Dimensionen deutlich über die herkömmlichen Anforderungen an Ausgleichsmaßnahmen hinausgeht, kann bei dem Lehmbauensemble unter den aktuell geltenden Umständen nur eingeschränkt von einer Ausgleichsmaßnahme gesprochen werden. Deutlich wird hier die Dringlichkeit neue Bewertungsmaßstäbe zu setzen; solche, die argumentativ und fachlich im Hinblick auf anstehende gesellschaftliche Herausforderungen haltbar sind. Das vorliegende Projekt kann in diesem Zusammenhang als von der Bundesanstalt für Straßenbau untersuchtes Modellvorhaben wirksam werden und dazu beitragen den Kriterienkatalog für Ausgleichs- und Naturschutzmaßnahmen empirisch fundiert und zukunftsweisend zu erweitern.

Vision

„Eine solche massive Lärmschutzwand könnte [der Region und dem Lehm als Baustoff der Zukunft] wirklich einen Push geben. Wenn man ein so starkes Zeichen wie die Lehmlärmschutzwand und die Raststätte mit einer Akademie verbindet, könnte das eine sehr große Strahlkraft entfalten. […]Baukultur nachhaltig verändern geht nur im Miteinander von Leuchtturmprojekten, Ausbildung und dem Kreieren von Unternehmen die das realisieren können. Das Interesse ist groß, aber es fehlt derzeit an Firmen.” – Martin Rauch, Lehmbauexperte, Workshop 15.01.21. 

Als Leuchtturmprojekt der zeitgenössischen Baukultur gilt das Lehmbauensemble darüber hinaus als maßgeblicher Impuls für die Schaffung einer Lehmbauindustrie. Durch ihren Einbezug von Forschung und Bildung ist diese Anziehungspunkt für Auszubildende und internationale Spezialisten.

Eben in diesem strategischen Dreieck aus Leuchtturmprojekt, Lehmbauindustrie und Bildungsstätten werden an diesem Ort Synergien frei, die dem zeitgenössischen Lehmbau in seiner Rolle als Vorreiter einer zukunftsorientierten Baukultur zum Erfolg verhelfen.

Zusammenfassend kann das Lehmbauensemble maßgeblich dazu beitragen gegenwärtige Maßstäbe für Ausgleichsmaßnahmen unter wissenschaftlicher Begleitung neu zu setzen, als Leuchtturmprojekt der zeitgenössischen Baukultur einem zukunftsfähigen Baustoff zum Durchbruch zu verhelfen und als neuer wirtschaftlicher Motor Impulse für die Region zu geben.

„[…] aus dem gebauten Erbe heraus die Zukunft entwickeln, sich mit der Situation auseinandersetzen, ein ganz besonderes Projekt nach vorne bewegen, dass sprechend ist, um ein Narrativ zu generieren, dem Menschen folgen können. Wir haben hier ein interdisziplinäres Tableau vorliegen, Personen aus verschiedensten Bereichen arbeiten offen zusammen. „So entsteht Baukultur.“ – Rainer Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, Zoom-Meeting am 15.01.2021.

„Künstlerische Arbeit leistet die Übersetzung in eine Formensprache die das intuitive Begreifen ermöglicht. Sie stellt dort kommunikative Verknüpfungen her, wo es technische und wissenschaftliche Arbeit nicht kann.“ Ute Reeh, Künstlerin und Projektinitiatorin, Machbarkeitsstudie Lehmlärmschutz 2020/21

Landmarken, Sitzskulpturen, Bänke am Verbundungsweg zwischen Nebelin und der künftigen Raststätte.

Nächste Schritte

  1. Strategie zur Realisierung des Lehmbauensembles als Pilotprojekt
  2. Konkretisierung der architektonischen Idee in einem Masterplan, der Landschaft, Lärmschutz, Raststätte, Ausgleichsflächen, Leitstrukturen und ihre Verbindungen sichtbar macht.
  3. Klimarelevanz – präzise Darstellung der Kreislauffähingkeit, der Ressourcenschonung und der CO² Bilanzierung
  4. Weiterentwicklung von Lehmbautechnologie in Zusammenarbeit mit regionalen und überregionalen Akteuren bis hin zur Produktionsreife
  5. Aufbau eines Unternehmens zur Produktion von Stampflehm- und Wellerlehmfertigteilen
  6. Mitdenken und entwickeln von Bauteilen für den Hochbau mit dem Raststättengebäude als Referenz
  7. Aufbau eines Bildungsnetzwerks im Rahmen der vom Zentrum für Peripherie projektierten Akademie, die in Weiterentwicklung des Bauhauses, Innovation, Handwerk, Bau und Kunst zusammen denkt.
  8. Formulierung neuer, der Zeit angemessenen Bewertungskriterien für Lärmschutz, Ausgleichsmaßnahmen und nachhaltiges Bauen

 

Simulation mit Höhen der Wände

Themen

1. Bewertung als Ausgleichsmaßnahme

Wie kann die Lehmwand bewertet werden?
Welche Faktoren sind relevant?
Was kann zusätzlich erforderlich sein?
Wie können Doppelnutzungen (durch Mensch und Natur) bewertet werden?
Wie kann dies am Beispiel der Wiese am Rastplatz dargestellt werden?
Was muss gewährleistet sein?
Wie können neue sinnvolle Erweiterungen der Bewertungsmaßstäbe erarbeitet werden?

2. Boden und seine Schichten

Wie ist der Boden landwirtschaftlich, rechtlich, ökologisch, kulturell wirksam?
Darstellung des Bodens als komplexes System.
Wie kann der Boden in Nebelin erhalten werden?
Bodenaushub als Ressource.

3. Insekten, Fledermäuse, Vögel

Welche Gefahren, Risiken, Potenziale bergen Wand und Umwelt für Insekten, Vögel und Fledermäuse?
Welche Bedingungen benötigen insbesondere Fledermäuse?
Wie kann ein entsprechendes Monitoring aussehen?

4. Der ‚Garten der Alhambra‘

Wie ist das ökologische Zusammenleben von Pflanzen und Tieren vor Ort?
Welche ein- und mehrjährigen Pflanzen, Sträucher und Bäume sollten vorhanden sein?
Was sollte nicht fehlen, im Sinne von Farbe, Duft, Nahrung für Insekten, Vögel und Fledermäuse und zur Freude der Menschen.

5. Eine Visitenkarte der Region

Was ist der Nutzen der Lehm-Lärmschutzwand für Einheimische und Besucher*?
Was ist der Wert eines wissenschaftlichen, architektonischen und touristischen Magneten für die Prignitz?
Was sollte auf jeden Fall beachtet werden?
Wie kann sie den Tourismus auf eine neue Art fördern?

6. Der Raststättenbereich

Was sind die Bedürfnisse der Besucher der Raststätte?
Was sollte konkret vorhanden sein?
Welche (Leit-)Strukturen ermöglichen die Gleichzeitigkeit von Naturerlebnis, Erholung und Ausgleich?
Wie kann dies so gestaltet werden, dass die Beachtung des Naturschutzgedankens Spaß und Freude macht?
Entwicklung von (Leit-)Strukturen für Besucher an Rastplätzen.

7. Gastronomie und Region

Was sollte die Bewirtschaftung des Rastplatzes auszeichnen?
Was genau sollte überall so sein?
Was sollte zusätzlich sein?
Was macht sie attraktiv für Fernfahrer, Durchreisende und Touristen aus der Prignitz?

8. Die Nebeliner Seite

Wie sollte es sein, damit sich Besucher aus Nebelin und Umgebung dort gerne aufhalten?
Entwicklung von (Leit-)Strukturen für Besucher aus Nebelin und aus den umliegenden Orten.
Was soll entlang der Mauer oder auf den Wegen dorthin gepflanzt werden?
Wie sollte sie gestaltet werden?
Wie können die Vorschläge der Kinder und der Bewohner von Nebelin konkret umgesetzt werden?

9. Landschaft

Wie bettet sich die Lehmlärmschutzwand in die Landschaft ein?
Wie sehen die (unterschiedlichen) Visionen des Gesamtbildes aus?
Wie binden sich die Lehmbauten und die Lehm-Lärmschutzwand in das Landschaftsschutzgebiet ein?
Wie binden sich die Lehmbauten und die Lehm-Lärmschutzwand in das Biosphärenreservat ein?

10. Ingenieurskunst

Geländeterrassierung, Statik, Ausgleichsflächen, Flächen für Parkplätze, Tankstelle und Ruhegebäude
als Ausgangsmaterial für zeitgemäße Architektur?
Was genau muss bei der Statik berücksichtigt werden?
Welche Möglichkeiten bieten die ca. 2 Meter hohen Hänge?
Welche Probleme stellen sie dar?
Welchen Einfluss haben sie auf das Mikroklima?
Wie wirkt sich das Zickzack der Wand aus?
Wie können entsprechende Effekte verstärkt werden?
Wie ist die Wirkung auf die Ästhetik?

11. Die Lehm-Lärmschutzwand in Zahlen – Kostenermittlung und Lebenszyklusanalyse

Wie schneidet die Alhambra im Vergleich zu konventionellen Lärmschutzwänden und Bauwänden ab?
Welche Faktoren müssen berücksichtigt werden?
Konkrete Berechnungen auf Basis der Situation in Nebelin?
Wie lauten die konkreten Zahlen für die drei von uns vorgeschlagenen Lehmwände?

12. Prignitzer Lehmbautechnik

Wie kann der innovative Lehmbau der Prignitz zum wirtschaftlichen Durchbruch verhelfen?
→ Aufbau und Struktur einer Prignitzer Lehmbaufirma.
→ Einsatz von Recyclingmaterial für Stampflehmvarianten.
→ Innovation auf dem Gebiet des Welllehmbaus.
→ Erarbeitung der Eckpunkte und des Leitaspektes eines Förderantrages (EU zusammen mit dem Wirtschaftsministerium Brandenburg) und DBU (Deutsche Bundesstiftung Umwelt) für die Entwicklung der Wellerpresse – Unterstützung durch das Wirtschaftsministerium Brandenburg bei der Förderung innovativer Technik ist in Aussicht gestellt.

13. Revolution des Bauens?

Wie kann eine Tankstelle zum Vorreiter einer zeitgemäßen Baukultur werden?
Welche Impulse gibt das Pilotprojekt für den Hochbau und im Bereich des Lärmschutzes?
Wie kann eine zeitgemäße kühle Ästhetik für die Tankstelle erreicht werden?
Aufgabe: 2-10 verschiedene Gestaltungsideen/-vorschläge

14. Bildung/Ausbildung

Wie sieht ein Schulungs-, Ausbildungs- und Forschungskonzept für das Prignitzer Lehmbauwerk aus?

Die Enden der Lehm-Lärmschutzwand mit zickzackförmigem Abschluss. Dies erfüllt gleich mehrere Aufgaben: statisch – Erhöhung der Stabilität gegen Winddruck; ökologisch – vielfältigerer Lebensraum durch Nischenbildung und Sonneneinstrahlung in unterschiedlichen Winkeln; ästhetisch – Aufbrechnung der Monotonie und interessante Form.

Die Veranstaltung fand statt in Kooperation mit der Bundesstiftung Baukultur